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Moderne Zeiten
Die Menschheit auf der Suche nach dem Glück

„Die beiden einzigen lebendenden Geister in einer Welt der Automaten. Sie leben wirklich. Beide besitzen einen ewig jugendlichen Geist und gehorchen keiner Moral. Lebendig, weil wir Kinder sind ohne Verantwortungsgefühl, während der Rest der Menschheit von Pflichten niedergedrückt wird. Wir sind im Geiste frei. Wir bestreiten unseren Lebensunterhalt durch Betteln, Borgen, Stehlen. Zwei fröhliche Geister, die sich mehr oder weniger ehrlich durchs Leben schlagen.“ Charles  Chaplin in einer Skript-Notiz über den Tramp und Gamine in Moderne Zeiten

 

Ein Film von Charles Chaplin 
Mit Charles Chaplin, Paulette Goddard, Henry Bergmann, Allan Garcia, Tiny Sandford, Chester Conklin, Hank Mann, Stanley Blystone
Buch, Regie, Produzent: Charles Chaplin 
Musik: Charles Chaplin; Musikalische Leitung: Alfred Newman; Arrangements: Edward Powell, David Raksin; Regieassistenz Carter Dehaven, Henry Bergman; Kamera Ira H. Morgan, Roland Totheroh; Ton: Frank Maher, Paul Neal; Ausstattung: Charles D. Hall, J. Russel Spencer; Produktion Chaplin-United Artists
USA 1936 | 87 min. | 1.33 | mono

Moderne Zeiten

„Wenn wir weiterhin die gegenwärtige Situation als unvermeidlich ansehen wollen, kann unser ganzes Gesellschaftssystem in die Brüche gehen. Die gegenwärtige bedauerliche Situation kann jedenfalls nicht den fünf Millionen arbeitslosen Menschen angelastet werden, die gerne arbeiten wollen, ja, darauf brennen zu arbeiten, und doch keinen Job finden. (...) Maschinen sollten der Menschheit nützen. Sie sollten kein Unheil bringen und sie nicht ihrer Arbeitsplätze berauben. Arbeitssparende Techniken und andere moderne Erfindungen wurden ursprünglich nicht um des Profits willen entwickelt, sondern um der Menschheit bei ihrer Suche nach Glück zu helfen.“ Charles Chaplin 1931, Interview mit der New York World

Der letzte Stummfilm
Zur Entstehung von Moderne Zeiten

„Der Sprechfilm birgt eine große Gefahr in sich“, schrieb Chaplin 1929 in einem Beitrag für die Zeitschrift Mein Film. „Er könnte imstande sein, die älteste Kunst der Welt, die Pantomime, zu zerstören. Sie bildet die Grundlage der Filmkunst, und nur von dieser stummen Kunst aus kann überhaupt der Weg zu künstlerischen Filmresultaten führen. Die sogenannte Sprechfilmkunst will die unerhörte Schönheit des Schweigens zerstören. Der Film der Zukunft ist der musikalische stumme Film, der Tonfilm im Sinne seines Begriffs, der Film, bei dem die Musik den Ton macht.“

1931 feierte Chaplins Stummfilm City Lights Premiere – vier Jahre nach Einführung des Sprechfilms schon beinahe ein Anachronismus.Der Verleih United Artists unternahm jedenfalls keine großen Anstrengungen, um den Film zu promoten, woraufhin Chaplin die Herausbringung selbst in die Hand nahm. Das Risiko zahlte sich aus: City Lights wurde zum bis dahin größten Erfolg Chaplins. Doch auch ihm war bewusst,  dass die Tage des Stummfilms gezählt waren.

Tramp ohne Stimme

1932 kehrte Chaplin von einer ausgedehnten Weltreise zurück, ohne Pläne zu einem neuen Film. „Ich fühlte, dass ich mir selbst ein Handikap auferlegen würde, wollte ich jetzt noch einen Stummfilm machen“,  schreibt er in seiner Autobiographie. „Außerdem bedrückte mich die fast panische Angst, ich könnte altmodisch wirken.“  Chaplin war sich im klaren, dass seine Einzigartigkeit in seinen pantomimischen Fähigkeiten lag. „Gelegentlich dachte ich daran, einen Tonfilm zu drehen, doch dieser Gedanke machte mich krank, weil ich erkannte, dass ich damit niemals den Rang meiner Stummfilme erreichen würde. Es würde bedeuten, dass ich mich von der Rolle des Tramp ein für alle Mal lösen müsste. Es gab Leute, die vorschlugen, dass der Tramp sprechen solle. Das war undenkbar, denn mit dem ersten Wort, das er ausspräche, würde sich seine ganze Persönlichkeit ändern. Die geistige Schablone, aus der er geboren war, war ebenso stumm wie die Lumpen, die er trug.“

Im Juli 1932 lernte Chaplin Paulette Goddard kennen. Gemeinsam stürzten sie sich ins gesellschaftliche Leben. „Ich wollte nicht allein sein und wollte auch nicht nachdenken. Doch hinter all diesen Vergnügungen fühlte ich ständig mein schlechtes Gewissen: Was tue ich hier? Warum bin ich nicht bei meiner Arbeit?“

Fließband und Pferderennen

Die langersehnte Anregung kam, wie Chaplin in seinen Erinnerungen schreibt, plötzlich und unerwartet bei einem Pferderennen, bei dem Paulette Goddard einen Pokal überreichte. „Ich entdeckte in Paulette etwas Gaminhaftes. Das war eine Eigenschaft, die ich zu gern auf die Leinwand gebracht hätte. Ich konnte mir vorstellen, wie der Tramp ihr als einem liederlichen und leichtsinnigen Mädchen in einem überfüllten Gefangenentransport-Wagen begegnet und ihr höflich und galant seinen Sitz anbietet. Das sollte der Ausgangspunkt sein, und aus dieser ersten Szene konnte ich eine ganze Handlung und verschiedene Gags entwickeln. Dann erinnerte ich mich an ein Gespräch, das ich mit einem intelligenten jungen Reporter geführt hatte. Er erzählte mir vom Fließbandsystem, das in Detroit in den Fabriken angewendet wurde. Es war eine erschütternde Geschichte, wie die Großindustrie gesunde junge Männer aus der Landwirtschaft abwarb, die nach 4 oder 5 Jahren am Fließband geistig und körperlich zusammenbrachen. Dieses Gespräch gab mir die Idee für Modern Times.“

Die Suche nach Glück

Chaplin beschäftigte sich schon seit einiger Zeit mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen. 1928 hatte ihn die Studie Social Credit von Major H. Douglas überzeugt, dass Profite grundsätzlich von den Löhnen abhängig seien – auf dem Höhepunkt von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit trennte er sich deshalb von seinen Wertpapieren, was ihn vor dem großen Börsenkrach rettete. 1931 sagte er in einem Interview mit der New York World: „Wenn Amerika weiterhin im Wohlstand leben will, dann muss das amerikanische Volk weiterhin in der Lage sein, Geld auszugeben. Wenn wir weiterhin die gegenwärtige Situation als unvermeidlich ansehen wollen, kann unser ganzes Gesellschaftssystem in die Brüche gehen. Die gegenwärtige bedauerliche Situation kann jedenfalls nicht den fünf Millionen arbeitslosen Menschen angelastet werden, die gerne arbeiten wollen, ja, darauf brennen zu arbeiten, und doch keinen Job finden. (...) Maschinen sollten der Menschheit nützen. Sie sollten kein Unheil bringen und sie nicht ihrer Arbeitsplätze berauben. Arbeitssparende Techniken und andere moderne Erfindungen wurden ursprünglich nicht um des Profits willen entwickelt, sondern um der Menschheit bei ihrer Suche nach Glück zu helfen.“

Die Welt im Strudel der Veränderung

Während seiner Weltreise entwarf Chaplin eine eigene Theorie zur Wirtschaftlichen Lösung – „ein raffiniertes Konzept, nach dem der Geldverkehr in Europa angekurbelt und die Kaufkraft dem Produktionspotential angeglichen werden sollte“, wie der Chaplin-Biograph David Robinson schreibt. Chaplins Überzeugungen stehen sicherlich im Hintergrund von Moderne Zeiten, ebenso wie die eigene Kindheitserfahrung von Armut und Hunger – ein Leitmotiv seiner Filme, das ihm 1931 der Besuch in seiner alten Londoner Schule gerade wieder erschütternd vor Augen geführt hatte. Eine politische Stellungnahme wollte der Film nicht sein.

„Ich bin immer misstrauisch, wenn ein Film eine Botschaft hat“, sagte Chaplin im selben Interview mit der New York World. „Im Augenblick befindet sich die Welt in so einem Strudel der Veränderung, dass nirgendwo irgendwelche Zeichen der Stabilität auszumachen sind, die einen vernünftig über die Zukunft spekulieren ließen. Aber ich bin sicher, die Welt bleibt so gut, dass man noch eine Weile in ihr leben möchte. Ich denke dabei nicht an den Erfolg, sondern an den Wandel der Zeit, wenn die Menschen sich dem nur stellen, ihn akzeptieren und mit ihm gehen würden.“

Lebendig in der Automatenwelt

Im März 1933 begann Chaplin mit der Arbeit an Modern Times. Aus der Vielzahl der Ideen schälte sich bald die Grundstruktur der Geschichte heraus: Nach der Etablierung des Tramps in der Maschinenwelt – und seinem Scheitern – bestimmen die Arbeitssuche und die Beziehung zwischen dem Tramp und Gamine den Handlungsverlauf.„Die beiden einzigen lebenden Geister in einer Welt der Automaten“, notierte Chaplins über seine Protagonisten, im aufschlussreichen Wechsel von Beschreibung und Bekenntnis: „Sie leben wirklich. Beide besitzen einen ewig jugendlichen Geist und gehorchen keiner Moral. Lebendig, weil wir Kinder sind ohne Verantwortungsgefühl, während der Rest der Menschheit von Pflichten niedergedrückt wird. Wir sind im Geiste frei. Es gibt keine Romantik in der Beziehung, eigentlich zwei Spielgefährten – ein Diebespaar, Kameraden, babes in the woods. Wir bestreiten unseren Lebensunterhalt durch Betteln, Borgen, Stehlen. Zwei fröhliche Geister, die sich mehr oder weniger ehrlich durchs Leben schlagen.“

Schon früh standen Szenen wie der Nervenzusammenbruch des Arbeiter-Tramps, die vom Laster gefallene rote Fahne, seine Verhaftung als Arbeiterführer und die Begegnung im Polizeiauto fest. Der Schluss war tragisch angelegt: Nach einer schweren Erkrankung des Tramps entschließt sich Gamine in ihrer Not, Nonne zu werden – nur im Traum kommen sie noch einmal zusammen. Ende August 1934 schrieb Chaplin die Story in Skriptform nieder – das Drehbuch ließ wie gewohnt viele Spielräume für neue Ideen und Entwicklungen während der Dreharbeiten. Im September liefen die Arbeiten für die aufwendigen Innenkulissen an.

Never mind the words!

Chaplins Atelier war eines der letzten Hollywood-Studios ohne die für Tonaufnahmen notwendige Überdachung. Obwohl Chaplin ständig betonte, ohne Dialog drehen zu wollen, rüstete man sich für alle Eventualitäten und versah das Studio mit einem provisorischen Dach. Geplant waren in jedem Fall Geräuschaufnahmen, menschliche Stimmen sollten im Film jeweils durch technische Apparaturen wie Grammophon, Sprechanlage und Radiogerät gefiltert werden.

Die Dreharbeiten begannen im Oktober mit den Fabrikszenen. Ende November unterbrach Chaplin die Arbeit am Set, um für sich und Paulette Goddard Sprechproben aufzunehmen – bis einschließlich der Kaufhausszenen lag ein komplettes, bis heute erhaltenes Dialogskript vor. Letztlich überwogen Chaplins Zweifel, und der Tramp blieb, wie er immer war: unendlich beredsam in seiner Stummheit. Ein einziges Mal lässt er im Film seine Stimme hören. Es ist Chaplins genialer Abgesang auf den Stummfilm:  Der Tramp steht auf der Bühne, den Text zu seinem Lied hat er vergessen, da macht ihm Gamine Mut: Never mind the words!  Der Tramp beginnt zu singen, in frei erfundener Nonsens-Sprache, begleitet von beredten Gesten – ein letzter Triumph der Pantomime.

Der Abschied des Tramps

Anfang Juni 1935 wurde der ursprünglich geplante Nonnen-Schluss gedreht, danach folgten die aufwendigen Szenen im Tanzcafé. Ende Juli fiel wohl endgültig die Entscheidung, dem Film seinen jetzigen Schluss zu geben – eine Veränderung von grundlegender Bedeutung: „Zwischen dem alten und dem neuen Chaplin gibt es noch einen Unterschied, der sehr nachdenklich stimmt, einen Unterschied zwischen der alten grotesken Figur und dem neuen vielgestaltigen Menschen“, schreibt Béla Balazs in seinem Essay Chaplins Geheimnis. „Es ereignet sich nämlich in den Modernen Zeiten, im letzten Bild, zum erstenmal, dass Charlie nicht allein weiter in die Welt hinauswandert, sondern mit seiner Freundin. Der stumme Chaplin war einsam!“

Im August 1935 waren die Dreharbeiten abgeschlossen. In den Folge-monaten arbeitete Chaplin intensiv an der Filmmusik, wobei er sich heftig mit seinen Mitarbeitern verkrachte – sein langjähriger musikalischer Leiter Alfred Newman beendete gar die Zusammenarbeit. „Die Leute in Papas eigenem Studio hatten schon unter seinem perfektionistischen Eifer zu leiden“, erinnerte sich Chaplins Sohn, „aber für die Musiker war es die reinste Folter.“ Nach einigen Testvorführungen und nochmaliger Arbeit am Schnitt und der Nachvertonung feierte Moderne Zeiten am 5. Februar 1936 seine Weltpremiere in New York.

Chaplin, der lange gehofft hatte, der Tonfilm sei nur ein Strang in der Entwicklung des Kinos, fügte sich in die Erkenntnis, dass die Zeit des Stummfilms zu Ende war. Überzeugt war er nicht, wie das eingangs erwähnte Interview von 1967 belegt: „In der Pantomime, wenn sie gut ist, kann man mit allem davonkommen und es glaubwürdig machen. Die Bewegung ist der Natur nahe – so wie ein Vogel fliegt – und das gesprochene Wort ist das Peinliche. Die Stimme ist so verräterisch; sie bringt etwas Künstliches mit sich und reduziert jedermann auf ein gewisses Maß an Zungenfertigkeit, auf etwas Unwirkliches. Pantomime ist für mich ein Ausdruck von Poesie, komischer Poesie.“ Der Tonfilm hatte gesiegt. Es begannen die modernen Zeiten des Kinos.

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