Die Chinesischen Schuhe
Ein Film von Tamara Wyss
Eine Produktion der Mediopolis Film und Fernsehproduktion GmbH
in Zusammenarbeit mit China Intercontinental Communication
Center Beijing. In Koproduktion mit RBB, RBB-ARTE, NDR und
SWR.
D 2004, 104 Min., 35mm, Farbe
Kurzinhalt
Aus der Vergangenheit flussaufwärts in eine
Gegenwart rastloser Veränderung.
Auf den Spuren ihrer Großeltern
begibt sich Tamara Wyss den Jangtse flussaufwärts, durch
die Drei Schluchten bis in die großen Städte
Sichuans. Gedreht wenige Wochen vor der Fertigstellung des
Staudamms, treffen wir überall auf Zeichen eines großen
und historischen Umbruchs. Alles ist in Bewegung, nicht nur
die Flusslandschaft, die an uns vorüberzieht. Alte
Städte werden abgerissen, neue gebaut, der Welt größter
Staudamm lässt einen Fluss und mit ihm eine einzigartige
Kulturlandschaft unwiederbringlich verschwinden. Nichts wird
bleiben, wie es ist, auch die Landschaft der Drei Schluchten,
die wir im Film sehen und die die Großeltern noch gekannt
haben, wird in Kürze nur noch Geschichte sein.
Der Film richtet sein Augenmerk immer wieder
auf die Menschen, denen Tamara Wyss während ihrer Reise
begegnet. Mit erstaunlicher Offenheit und einer überraschenden
Gelassenheit berichten sie von den Verwerfungen chinesischer
Geschichte und den Folgen aktueller Politik für ihr Leben.
Im Gepäck hat die Autorin Fotografien, Tonaufnahmen, Aufzeichnungen
und Briefe ihrer Großeltern. Diese Dinge sind ihr „Reiseführer“ durch
das Land und zu den Menschen. Zu ihnen kehrt der Film immer
wieder zurück.
Top
Synopsis
Fern von einem politischen Pamphlet hat sich die
Filmemacherin Tamara Wyss mit Die chinesischen Schuhe auf
eine faszinierende filmische Reise über den Jangtse-Fluss
begeben: eine Staunen machende Entdeckungsfahrt durch ein China
zwischen jahrtausendealter Tradition und atemloser Moderne.
Gedreht im Spätsommer 2002, wenige Wochen
vor der Flutung der Drei Schluchten, trifft die Autorin überall
auf Zeichen eines großen äußeren Umbruchs.
In dieser Situation stellt der Film Fragen nach dem Umgang
mit der Vergangenheit. Er verknüpft die beiden Zeitebenen,
die Gegenwart und die Vergangenheit, durch Schauplätze,
durch Menschen, und ihre Geschichten, mit Bildern oder Musik.
Tamara Wyss arbeitet mit ruhigen, langen Einstellungen, sie
nimmt sich Zeit für Begegnungen, der Kommentar ist sparsam
und beschränkt sich auf Persönliches und die Geschichte
der Grosseltern.
Hedwig und Fritz Weiss lebten und reisten am
Anfang des 20. Jahrhunderts in China. Fritz Weiss ist
Konsul für das deutsche Kaiserreich, Hedwig Weiss eine
abenteuerlustige Frau, die schon immer von zu Hause weg wollte
und neugierig ist auf ein exotische Land. Frisch verheiratet
machen sie sich auf den Weg zur neuen Dienststelle im entlegenen
Westen Chinas. Fritz Weiss hält als Konsul, und
das ganz wörtlich, die deutsche Fahne in diesem entlegenen
Winkel Chinas hoch.
Aber ihr eigentliches Interesse gilt etwas anderem:
Sie wollen Land und Leute kennen lernen, in unbekannte Gegenden
vordringen und Abenteuer erleben. Interessiert an den technischen
Errungenschaften ihrer Zeit, haben sie Kameras dabei, auf einem
der ersten Edison Phonographen nehmen sie Lieder der Jangtse
Treidler auf. Sie erleben eine Zeit, in der sich politisch
vieles ändert: das Ende des Kaiserreiches, die ersten
Jahre einer zum Untergang bestimmten Republik.
Die Autorin folgt der Route der Großeltern.
Sie bittet um Auskunft zu den alten Fotos, sucht Orte, trifft
auf Menschen, die die Nachfahren jener sein könnten, die
auf den alten Fotografien zu sehen sind. Sie gewinnt Einblick
in die Vergangenheit, und in ihr gegenwärtiges Leben.
Alles scheint in Bewegung, nicht nur die Flusslandschaften
die an uns vorbeiziehen. Alte Städte werden abgerissen,
neue gebaut, ein Fluss wird verschwinden, Menschen siedeln
um, neue Wirtschaftsformen zwingen Menschen zum Aufbruch, Lebensformen ändern
sich ebenso radikal, wie es zu Zeiten der Großeltern
der Fall war.
In der ersten Hälfte des Filmes fahren wir
den Fluss hinauf – es ist der letzte Sommer vor der Fertigstellung
des Drei Schluchten Staudamms. Die letzten Häuser
werden abgerissen, die Wenigen die noch nicht umgezogen sind,
müssen es jetzt tun. Ehemalige Bootsleute und Treidler
müssen nach neuer Beschäftigung suchen müßen.
Eine Gruppe von ihnen hat ihre Erfahrungen zu einem Theaterstück
für Touristen verarbeitet.
In der zweiten Hälfte des Filmes begeben
wir uns in die Großtädte Sichuans: Chongqing und
Chengdu. Was in den Drei Schluchten als Folge der
technologischen Entwicklung erst erwartet wird, ist in den
rastlosen Metropolen Teil bereits eingetreten. Eine Moderne,
die die erstaunlichen Fundamente chinesischer Geschichte zu überlagern
scheint. Wir begegnen dem Architekten des Mao Denkmals in Chengdu,
der verschmitzt von den damaligen Vorgaben für das Bauwerk
redet, das wohl immer Zentrum Chengdus bleiben wird. Ein Rechtsanwalt,
der die Geschcihte seines eigenen Großvaters recherchiert, gewährt
uns einen Einblick in die kurzen Momente der Mehrparteiendemokratie
nach der ersten chinesischen Revolution im Jahr 1911.
Frauen treten unmerklich ins Zentrum des Films,
sie sind Bauleiterinnen, Rentnerinnen und Ladenbesitzerinnen,
sie reden mit großer Offenheit über ihr persönliches
Leben, ihre derzeitige Situation und ihre Zukunftswünsche.
Der Ältesten, der 110 jährigen Zhang Zhenhua, zeigt
der Autorin jenes Andenken, das ihre Grosmutter aus einer Zeit
mitbrachte, in der beide Frauen jung waren und sich doch nie
begegnen konnten: Die chinesischen Schuhe.
Top
Interview Tamara Wyss
Können Sie uns ein etwas über
Entstehungsgeschichte Ihres Film erzählen?
Tamara Wyss: Ich glaube es fing damit an, dass
mein Vater nach Spanien umzog und seinen Keller aufräumte.
Ich entdeckte unter anderem die alten Fotos meiner Großeltern.
Die habe ich an mich genommen und überlegt, was ich damit
anfangen soll. Als erstes habe ich einen Kurzfilm nur aus diesen
Fotos gemacht. Ich dachte dann, ich würde sehr gerne zu
diesen Orten, an denen ein Teil der Bilder aufgenommen wurde.
Diese Orte waren für meine Großeltern sehr wichtig.
Als ich ein Kind war, hat meine Großmutter
sehr viel von ihrer Zeit in China erzählt. Sie hat auch
Kinderbücher geschrieben. Zwei davon spielen in China.
Das war eine Art Mythos. Es gab diese kleinen chineischen Schuhe
und auch andere Dinge, die sie aus China mitgebracht hatte
und die für mich als Kind immer sehr reizvoll waren. Eine
ganz andere Welt, etwas sehr Exotisches und Mysteriöses.
Daraus ist dann die Idee entstanden, an diese Orte zurückzukehren,
um zu sehen, wie sie heute sind.
Der andere wichtiger Punkt, der im Film aber
nicht vorkommt, ist, dass ich in den 70-er Jahren eine Zeitlang
Anhängerin des Maoismus` war und die Kulturrevolution
aus der Entfernung damals ganz toll fand (lacht).
Das hat sich natürlich relativiert in der Begegnung mit
China und Leuten, die das wirklich erlebt haben. So war dieses
Hingehen nach China einerseits ein Zurückgehen in Eindrücke
der Kindheit, um diese mit der heutigen Wirklichkeit zu konfrontieren.
Anderseits hat das mit meiner Biografie zu tun und den politischen
Idealen, von denen ich mal glaubte, dass sie in China verwirklicht
wären.
Wenn Sie im Film sagen: „Hier erkenne
ich nichts mehr!“ , gibt es bei Ihnen da eine gewisse
Nostalgie oder ein Verlustgefühl in Bezug auf die unauffindbaren
Orte Ihrer Großeltern und die Umsiedlung der Menschen?
Ein Verlustgefühl schon... Einige Jangtse-Städte
- obwohl ich es schade finde, dass die abgerissen werden und
die Leute umsiedeln müssen, waren ja keine besonders schönen
Städte. Die Orte, die meine Großeltern gesehen haben
und die unserem ästhetischen Gefühl nach schön
waren, die gibt es ja schon lange nicht mehr, das ist in den
letzten Jahrzehnten schon alles abgerissen worden.
Was die Umsiedlung angeht, das ist für mich
keine Frage der Nostalgie, sondern der sozialen Gerechtigkeit.
Das habe ich versucht, im Film anklingen zu lassen. Wobei das
kein Film über den Staudamm ist. Der Staudamm liegt entlang
der Reiseroute. Er steht für eine technologische Umwälzung,
die auf der anderen Seite zum Verlust der Tradition führt,
zum Verlust von Heimat, wenn man so will. Nun gibt es
manche Menschen, die sagen: „Das ist eben notwendig!“,
und es gibt andere Menschen, die sagen: „Der Preis ist
zu hoch!“. Der eine Mann, den ich direkt dazu befrage,
sagt, er sei natürlich traurig weggehen zu müssen,
aber was zähle er schon als Einzelner gegenüber einem
Staatsprojekt? Für mein Verständnis war das sehr
traurig, aber ich weiß, dass andere Leute diese
Aussage nicht als traurig sehen, sondern als: „So ist
es eben!“
Die Menschen scheinen diese Dinge in
den Interviews mit einem Lächeln zu sagen. Hinter diesem
Lächeln verbirgt sich allerdings etwas ganz Trauriges,
Schmerzhaftes.
Das glaube ich auch. Gleichzeitig ist dieser
Staudamm natürlich ein politisch sehr heikles Thema und
ich wollte die Leute nicht zu etwas drängen, was sie in
dieser Situation nicht sagen wollten oder konnten. Deshalb
sind ihre Aussagen dazu teilweise sehr zurückgenommen,
aber Trauer und Empörung sind doch immer wieder deutlich
spürbar.
Trotzdem sind Sie auf ein großes
Redebedürfnis der Leute gestoßen? Haben sie sich
leicht auf Sie als Ausländerin eingelassen?
Ich hatte nicht das Problem, dass die Leute nichts
erzählen wollten. Bei meiner ersten Reise 1998 bin ich
noch auf viel Ablehnung gestoßen, auf viel Misstrauen
mir gegenüber. Bei der zweiten Reise war das sehr viel
weniger ein Problem. Ich hatte einen klaren Grund,
weshalb ich diese Reise machte: Ich reiste meinen Großeltern
nach. Das war für die Chinesen viel eher akzeptabel, und
deshalb wurde ich nicht als so fremd empfunden, wie das sonst
der Fall gewesen wäre. Ich habe die alten Fotos gezeigt,
und das hat bei den Leuten großes Interesse hervorgerufen.
Es war so, dass ich ihnen etwas zeigen und geben
konnte und nicht nur etwas von ihnen genommen habe. Das war
mein Versuch. Ich bin auch zu verschiedenen Leuten zurückgegangen,
weil ich auf keinen Fall unverbindlich bleiben wollte. Nach
den Recherchen und nach dem Dreh habe ich den Leuten Fotos
geschickt, die ich aufgenommen hatte. Damit sie wissen, das
ich nicht verschwinde, sondern dass ich da bin und an sie denke.
Ist es heute noch etwas Besonderes als
Ausländerin durch China zu reisen? Wie ist es Ihnen
unterwegs ergangen?
Chinesen gehen viel unbefangener mit Neugier
um. Man wird viel und sehr genau beobachtet. Das muss man vor
allem mit Humor nehmen. Gleichzeitig ist das eine wunderbare
Chance Menschen kennen zu lernen.
Meinen Sie nicht, dass man eher positiv
beachtet wird, es schon an einer Art Verklärung des
westlichen Ausländers grenzt?
Das gibt es sicher auch, aber nicht nur. Meine
Dolmetscherin ist bei der ersten Reise einmal als „Dienerin
des fremden Teufels“ beschimpft worden. Also das hat
es auch gegeben. Bei der ersten Fahrt 1998 hatten wir nicht
viel Geld und sind in Hotels gegangen, die eigentlich für
Chinesen sind und da sind wir zweimal rausgeflogen: Die Hoteldirektorin
hat uns ein Zimmer gegeben und dann hat das Zimmermädchen
uns angezeigt. Sie hat am Gepäck erkannt, dass wir Ausländer
sind und dann ist sie zu jemandem hingegangen und die Direktorin
wurde aufgefordert, uns rauszuschmeißen.
Aber Sie haben wahrscheinlich schon Recht mit
dem positiven Verklären. Wobei 2002 in den großen
Städten auch schon so viele Ausländer waren, dass
man nicht mehr so aufgefallen ist. Die ehemaligen Bootsleute,
vor allem die alten Leute, hatten insgesamt am wenigsten Angst
zu reden und haben sehr frei mit uns gesprochen. Die jungen
Leute waren manchmal etwas schüchtern, etwas unbeholfen
und da war es dann schwieriger. Es war schon sehr offensichtlich,
dass die alten Leute ein ganz anderes Selbstbewusstsein als
die jungen Leute in Bezug auf das Sich Darstellen hatten.
Wie kann man sich erklären, dass gerade Ältere
, die Kulturrevolution und politische Unterdrückung
noch deutlicher miterlebt haben, jetzt keine Hemmungen haben
sich zu äußern? Vielleicht ist es genau das: Sie
haben soviel erlebt und jetzt haben sie keine Angst mehr. Anders
vielleicht die Bauherrin in meinem Film: Sie hat von ihrem
Status her keine Angst. Aber auch die Frau, die darüber
redet, dass sie nicht genug Entschädigung für ihren
Laden in Chengdu bekommt: Sie redet ganz frei von der Leber
weg. Also dieses Frei-von-der-Leber-weg-Reden und seine Unzufriedenheit
ausdrücken, habe ich doch eher bei Personen erlebt, die
nicht mehr ganz jung waren. In China wird ja relativ frei über
alles geredet, solange man die Regierung nicht direkt angreift.
Und diese Fragen haben in meinem Film keine direkte Rolle gespielt.
Mein Thema war nicht die Regierung Chinas, sondern das Leben
dieser Menschen in diesen Orten und das ging auch gut.
Wie ist das mit nationalem Selbstgefühl,
auf was sind Sie da gestoßen?
Eine schwierige Frage. Ich bin auf ein größeres
Selbstverständnis gestoßen, was die eigene Nation
angeht, als dies in Deutschland der Fall ist. Es wird mit einer
großen Selbstverständlichkeit und großem Selbstbewusstsein-
wie die meisten Menschen insgesamt sehr selbstbewusst sind- über
die eigene Herkunft, das Land, die Nationalität gesprochen.
Während meiner ersten Reise war das noch
anders. Wenn man mit irgendetwas ein Problem hatte, z.B. dem
Hotel, gab es Leute, die das als Kritik an dem Land empfanden.
Etwas Ähnliches ist uns in einer Gegend widerfahren, in
der die Minderheiten der Yi leben. Das sind sehr arme Menschen.
Wir haben in einer Schule gedreht, in der die Kinder zum Teil
auch wohnen. Die bekommen dort zwei Mahlzeiten am Tag und diese
Mahlzeiten bestehen aus Reis und einer Wassersuppe mit etwas
Kartoffeln. Die Kinder sind alle zu klein für ihr Alter,
die sind unterernährt.
Ich dachte mir damals, dass die Kinder etwas
von unserer Anwesenheit haben sollten, indem sie etwas zu essen
bekommen, was ein bisschen nahrhafter ist. Wir haben also ein
Schwein gekauft und es in die Schule gebracht. Die Lehrer haben
sich unheimlich gefreut, aber der Direktor hat es ignoriert.
Im Gespräch hat er gesagt, dass es wichtigere Dinge als
die Ernährung gibt. Er hat das Schwein als Almosen begriffen,
also als Erniedrigung, und er hat betont, wie fortschrittlich
sie sind, wie sozialistisch.... Das war schon interessant:
Solche Aussagen, die man sonst nur sehr wenig in China findet,
spielten in dieser Schule, die ganz weit weg in den Bergen
liegt noch eine wichtige Rolle.
Inwieweit hat sich Ihr China- Bild differenziert?
Wie war Ihre Vorstellung von China vor Ihren Reisen?
Bei der ersten Reise 1998 hatte ich wirklich
eine Reihe von Vorurteilen. Ich dachte, ich würde eine östliche
Version der DDR antreffen. (Lacht) Ich war ängstlich,
vorsichtig und so weiter. Man merkt dort ganz schnell, dass
das überhaupt nicht so ist. Vorallem in Südwestchina
habe ich mich eher an Mittelmeerländer erinnert gefühlt
als an den Ostblock. Das hat mich wahrscheinlich erstaunt und
verwundert, weil ich vorher eben nie dort war.
Und obwohl im Film viele traurige Ereignisse
und Schicksale geschildert werden, hatte ich das Gefühl,
spürt man ein gewisses positives Lebensgefühl.
Ja, das ist auch der Fall. Das sehe ich genauso.
Die Chinesen haben einen sehr ausgeprägten Sinn für
Humor und eine positive, anpackende Lebenseinstellung. Es wird
trotz all dieser Schwierigkeiten sehr wenig geklagt. Es war
auch mein Ziel, dass die Leute im Film als sehr starke Figuren
rüberkommen.
Man sieht Chinesen, die hart arbeiten,
denen es sozial nicht gut geht, damals wie heute. Hat sich
vor diesem Hintergrund Ihr Verhältnis zu den Großeltern
verändert?
Eins ist klar: Meine Großeltern waren als
Vertreter eines imperialistischen Staates in China. Punkt.
Ich glaube, dass sie das nicht reflektiert haben, dass sie
ein ungebrochenes Verhältnis zu ihrer Rolle hatten. Für
sie war das die Abenteuermöglichkeit, die Idee, etwas
Neues kennen zu lernen und zu erforschen. Mein Großvater
hatte vor der Zeit, die ich im Film behandle, ausgedehnte Wanderungen
in Südwestchina gemacht, eine Fußreise von Indien
nach Yunnan zum Beispiel. Ich glaube, er wäre lieber Geograph
geworden als Konsul. Aber genau diese Konsulartätigkeit
gab ihm den finanziellen Hintergrund, das zu machen, was er
machen wollte. Es gibt endlose Briefe, wo mein Großvater
sich darüber aufregt, dass er nicht mehr chinesisch sprechendes
Personal aus Deutschland bekommt, um ihn zeitweilig zu ersetzen,
damit er die „wirklich wichtigen“ Reisen machen
kann, um für die deutsche Industrie neue Absatzmärkte
zu finden. (lacht) Wobei ich mir nicht so sicher bin, ob er
in irgendeinem entlegenen Yi-Dorf große Absatzmöglichkeiten
für deutsche Produkte vermutete. Ich denke, dass er da
wahrscheinlich auch zwiespältig war. Das kann ich so genau
nicht sagen.
Er hat sich auch -das kommt im Film nicht mehr
vor- während des ersten Weltkrieges ganz massiv
in die Politik eingemischt. In Yunnan, damals französisches
Einflussgebiet und Indochina, also jetziges Vietnam, gab
es Aufstände gegen die Franzosen, die er kräftig
unterstützt hat. Ich weiß nicht genau, wie weit
das ging, ob das auch materiell unterstützt wurde oder
nur durch Drucken von Flugblättern. In der französischen
Presse gab es sehr viele negative Berichte über ihn, er
wurde sehr angegriffen, weil er die Vietnamesen gegen die Franzosen
unterstützte. Natürlich auch aus deutsch - imperialem
Interesse, nicht, weil er nun unbedingt für die Freiheit
der Vietnamesen war. Aus diesem Grund hielt er auch im Grenzgebiet
zu Burma mit verschiedenen muslimischen Gruppen Kontakt. Da
ging es zum Teil darum, Aufstände gegen die Engländer
anzuzetteln.
In dem Kinderbuch meiner Großmutter werden
die chinesischen Menschen sehr liebevoll beschrieben. Meine
Großmutter selber hatte aber wenig freundschaftlichen
Umgang mit Chinesen. Die Kontakt meiner Großeltern beschränkten
sich vorwiegend auf das Personal und die offiziellen Kontakte
meines Großvaters. Seine freundschaftlichen Kontakte
gingen alle auf die Kaiserzeit zurück. Mit dem Beginn
der chinesischen Revolution hatte er diese Kontakte nicht mehr,
weil er sich politisch leider nicht für diese Republik
oder Revolution erwärmt hatte.
Man muss zur Biographie meiner Großeltern
noch sagen, dass beide jüdische Vorfahren hatten. Beide
hatten jüdische Mütter und das war eine Tatsache,
die bekannt war. Ich weiß nicht genau, was das dort in
China unter den deutschen Kollegen für eine Rolle spielte,
aber ich habe einen Brief von jemanden gefunden, der meine
Großeltern in Yunnan gekannt haben muss und der zu Beginn
des 3. Reiches ans Auswärtige Amt schrieb und sie als
Juden denunzierte. Das heißt, es muss doch eine Rolle
gespielt haben und bekannt gewesen sein. Mein Großvater
ist dann 1934 in Zusammenhang mit dem Gesetz zum Berufsbeamtentum
aus dem Dienst ausgeschieden.
Die tatsächlichen chinesischen Schuhe
nehmen im Film insgesamt nur einen kleinen Platz ein. Ist
das ein Spiel mit dem Interesse des westlichen Zuschauers
an verkrüppelten chinesischen Füßen bzw.
dieser Assoziation?
Das wäre eher ein Grund für mich gewesen,
den Titel nicht zu nehmen. Wir haben auch nicht das chinesische
Zeichen „3 Zoll Lilienfüße“ genommen,
sondern einfach für Schuhe. Die chinesischen Schuhe sind
dann nicht nur die kleinen Schuhe, die ich der einen Frau am
Ende des Filmes zeige und die meine Großmutter einst
mitgebracht hatte, sondern sind symbolisch auch die Schuhe,
die ich trage, wenn ich in China unterwegs bin.
Im zweiten Teil des Films werden Frauen immer
mehr die eigentlichen Protagonisten des Films. Das war keine
Absicht, das hat sich so ergeben. Es waren einfach nur Männer,
die auf dem Fluss gearbeitet und darüber geredet haben.
In der Stadt sind es zunehmend Frauen.
Für mich sind diese beiden alten Frauen
am Ende des Films sehr wichtig, weil sie für mich einen
Gegenpol oder zumindest eine Ergänzung zur Rolle meiner
Großmutter schaffen. Meine Großmutter beschreibt,
wie sie chinesische Frauen besuchte, die alle Mahjong spielten
und ihre unlackierten Fingernägel und großen Füße
kritisierten, sie deshalb sogar auslachten. Da wird deutlich,
dass es keine Kommunikation zwischen diesen beiden Welten gibt.
Aber wenn man die beiden alten Frauen Ende des
Films betrachtet, dann ist man mit Frauen konfrontiert, die
ungefähr der Generation meiner Großmutter angehören.
Die hatten sehr wohl ihren eigenen Kopf und wollten ihr
Schicksal selbst bestimmen. Zum Beispiel die heute 110-jährige
Zhang Zhenghua, die einen Doktortitel hat und damals sicherlich
sehr darum kämpfen musste, zur Schule und später
zur Universität gehen zu können. Die hatte im Grunde
damals eine größere emanzipatorische Lebenserfahrung
als meine Großmutter.
Meine Großmutter hat nicht studiert und
hat sich keinen eigenen Beruf gesucht. Sie ist nicht Forscherin
geworden, sondern sie hat sich einen Mann gesucht, durch den
sie dann diese Dinge verwirklichen konnte. Erst durch das Schreiben
hat sie sich ihren eigenen Beruf geschaffen. Es ist also nicht
so, dass es keine Berührungspunkte zwischen diese beiden
Welten hätte geben können.
Das Interview führte Feng-Mei Heberer /
China aktuell
Top
Filmografien
Tamara Wyss
1970 - 1974 Ausbildung an der Deutschen Film-und
Fernsehakademie Berlin. Freiberufliche Filmemacherin, Kamerafrau,
Fotografin, Cutterin und Dozentin in Deutschland und Großbritannien;
Entwicklungshelferin in einem Medienprojekt in Afrika.
Filme (Auswahl):
1998-2004 Die chinesischen Schuhe
1996/97 Kleine Leute, grosse Geschichte
1994/95 Glasspictures and Crocodile
1989/90 Auf der Suche nach Herrn Moses
1989-91 Nachrichten vom Land
1985 We Help People Live, We Help People Die
1982-83 Zwischen Leid und Lachen; Wasser einmal
am Tag
1975-78 Kapverdische Inseln unabhängig, Teil I – IV:
Die landwirtschaftliche Kooperative von Santana; Vom
Land leben; Ein Dorfgericht; Ein ehemaliges
Konzentrationslager (Alle zus. mit S. Kotanyi und G. Heidrich)
1976/77 Wird Shoreh zu Ende studieren ; Multinationaler
Kindergarten
1975 Wir werden für Ungelernte ausgebildet
1974 Wir sind hier der Kinder wegen
Preise: Film des Monats Mai 1984 für Zwischen
Leid und Lachen ; Wasser einmal am Tag; Leipzig Internationales
Dokumentarfilmfestival, Solidaritätspreis für Die
landwirtschaftliche Kooperative von Santana 1978
Festivals u. a.: Margaret Mead, New York; Tyneside
Newcastle; Cinema du Rèel und Cinema Ethnographique,
Paris; Mannheimer Filmwoche; Duisburger Dokumentarfilmfestival;
Figuera das Foz, Portugal; Creteil Festival International du
Femmes; Leipzig Internationales Filmfestival; Internationale
Hofer Filmtage; Rhodos etc.
Zwei Fotoausstellungen. MA Oxford/Brookes.
Top
Credits und Stab
Buch, Regie: Tamara Wyss
Kamera: Lutz Reitemeier bvk, Tamara Wyss
Kamera- und Schnittassistenz: Liu Hong
Schnitt: Anette Fleming, Tamara Wyss
Ton: Xing Ding
Aufnahmeleitung, Regieassistenz: Zhao Qing
Dolmetscherinnen: Zhao Jie, Li Mei
Historische Fotografien: Fritz & Hedwig Weiss
Historische Tonaufnahmen: Sammlung Weiss, Phonogramm Archiv
, Ethnologisches Museum, Berlin
Sprecherinnen: Franziska Schubert , Martina Treger, Timmo Niesner
Mischung: Olaf Mehl, METRIX media GmbH
Online Schnitt, Postproduktion: Matthias Behrens, Anette Fleming
Technische Beratung: Matthias Behrens, waveline GmbH
Technische Schnitt Assistenz: Ralph Bäuchle, Eduardo
Delgado Lopez
Produktionsassistenz: Florian Schumann, Mai Nguyen Than
Übersetzung: Zhao Jie, Zhou Fengran , Zhou Huaying
Kalligraphie: Wan Yan Xing
Titel, Abspann, FAZ: Moser + Rosie Trickatelier Film GmbH
Kopierwerk, Negativschnitt: Schwarzfilm, Bern
Lichtbestimmung: Rudi Tresch
Produktionsleitung Sonja Kirch, Li Zhuang, Dieter Melzer
Produzenten Jörg Rothe, Alexander Ris, Yuan Lili
Redaktionen: Barbara Frankenstein, RBB; Søren Schumann,
RBB / ARTE; Jürgen Tomm, RBB; Barbara Denz, NDR
Dank an die Mitwirkenden: Xintan: Zhen Ke Bing,
Zigui: Dong Shaohua, Wang Zuxiang, Hu Zhenhao; Fengjie:
Zhang Honggui; Chongqing: Qu Hong; Chengdu: Yang Bigyu und
Yan Zhengyu, Zhu Huarong, Wu Defu, Mi Ruirong, Zhang
Zhenhua, Xu Rong Und viele andere Mitwirkende in China
deren Namen wir nicht kennen.
Dank:Arvid Enders, Deutsche Botschaft Peking:
Susanne Ziegler, Phonogramm Archiv, Berlin; Institut für
Kultur und Geschichte Chongqing und Chengdu; Du Yi und
Xu Hui, Chengdu; Lin Peng, Yichang
Eine Produktion der Mediopolis Film und Fernsehproduktion
GmbH in Zusammenarbeit mit China Intercontinental Communication
Center Beijing. In Koproduktion mit RBB, RBB-ARTE, NDR und
SWR. Produktion gefördert durch Medienboard Berlin-Brandenburg
GmbH und die Medien und Filmgesellschaft Baden-Württemberg
Im Verleih der Piffl Medien. Gefördert durch
die FFA und die Medien und Filmgesellschaft Baden-Württemberg
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Die Großeltern
Max Friedrich (Fritz) Weiss (1877-1955)
Hedwig Margarete Weiss-Sonnenburg (1898-1975)
Fritz Weiss studierte Jura und lernte am orientalischen
Seminar in Berlin chinesisch. 1899 ging er erstmals nach China
in den Zolldienst in Qingdao, der damals noch von den Engländern
organisiert wurde. Im Jahr darauf wechselte er zum deutschen
Auswärtigen Amt und arbeitet als Dolmetscher in verschiedenen
Konsulaten. 1905 wurde er nach Chengdu und Chongqing versetzt,
wo er den Konsulatsdienst übernahm und 1911 zum Konsul
ernannt wurde.
Sein ganzes Interesse galt Landschaften, fremden
Ländern und entlegenen Kulturen. Er nutzte seine China-Aufenthalte
immer wieder zu ausgedehnten Wanderungen und Reisen durch das
Land, vor allem in Süd-West China. Seine Reiseleidenschaft
- von einem Heimaturlaub kehrte er auf dem Landweg von Indien
nach China zurück - manifestierte sich in zahlreichen
Skizzen und Fotografien. Er zeichnete Karten, nahm Gesteinsproben
und schrieb für einige geographische Magazine. Wahrscheinlich
wäre er viel lieber Geograph als Konsulatsbeamter geworden.
Während eines Urlaubs 1911 lernte
er die lebenshungrige Hedwig Sonneburg kennen. Der kurze Deutschlandaufenthalt
reicht für eine Verlobung mit anschließender Heirat.
Wie Fritz kam sie aus einer deutsch-jüdischen Familie
und war in Berlin aufgewachsen. Die Aussicht auf weitausgedehnte
Reisen trug sicher dazu bei, dass sie sich so schnell für
Fritz Weiss entschied.
Im September 1911 kamen sie in Shanghai an und
fuhren dann den Jangtse stromaufwärts bis Chong-qing.
Im Frühjahr 1912 reisten sie weiter zu seinem Amtssitz
in Chengdu, Sichuan, wo sie im April 1912 ankamen. Während
dieser Fahrt hatte im Oktober die bürgerliche Revolution
unter Sun Yat Sen begonnen. Als Hedwig und Fritz Weiss in Chongqing
und Chengdu ankamen regierte der chinesische Kaiser schon nicht
mehr.
Sie blieben bis 1914 in Chengdu und verbrachten
anschließend drei Jahre in Kunming /Yunnan, wo Fritz
Weiss das erste deutsche Konsulat eröffnete und leitete.
1917 erklärt China auf Drängen der Alliierten Deutschland
den Krieg. Fritz und Hedwig werden gezwungen China zu verlassen.
Ihre Reise wird zu einem beschwerlichen Abentuer: Mit anderen
in Kunming lebenden Deutschen treten sie einen wochenlangen
Fußmarsch Richtung Norden zum Jangtse an. Von dort geht
die Reise stromabwärts nach Shanghai, wo sie das letzte
Schiff nehmen, das den deutschen Reisenden zur Verfügung
steht. Die Rückreise führt sie weiter über Japan
und die USA – dort fahren sie im geschlossenen Eisenbahnabteil
quer durch den Kontinent an die Ostküste und kehren weiter über
England bis nach Deutschland zurück.
Fritz Weiss war bis bis 1934 im Auswärtigen
Amt tätig. Eine neue Stelle in China, wohin er gerne
zurückgekehrt wäre, blieb ihm verwehrt. Von 1921
bis 1928 übernahm er die deutsche Gesandtschaft in Adis
Abeba, anschliessend verschiedene Gesandtschaften in Lateinamerika.
Nach einem Aufenthalt in Spanien kehrte das Paar 1936 nach
Berlin zurück, wo sie die Hitlerzeit überlebten.
Hedwig arbeitete journalistisch und veröffentlichte
Artikel in verschiedenen Zeitungen. Ihre Bücher wurden
in den 50-er und 60-er Jahren in der Bundesrepublik veröffentlicht,
unter ihnen die beiden Kinderbücher, die in China spielen: Der
kleine Chinese Li und Die Pflaumenblüte und Kai
Lin.
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Spieltermine und Kinolinks
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