Zum Film
Mit überwältigenden Bilder und seiner mythisch-philosophischen Geschichte entführt GRAIN – WEIZEN in eine Zukunft, die so fern doch gar nicht mehr scheint.
Ein abrupter Klimawandel hat das Leben auf der Erde nahezu unmöglich gemacht; Konzerne kontrollieren das Leben. Menschen leben in Ruinenstädten oder als Flüchtlinge in ländlichen Gebieten, die durch unsichtbare Elektrobarrieren von den Städten getrennt sind.
Der Wissenschaftler Erol Erin (Jean-Marc Barr) begibt sich auf die Suche nach dem berühmten Genetiker Cemin Akman (Ermin Bravo), der eine Lösung für die fortwährenden Missernten besitzen könnte, die die Menschheit in dieses Chaos gestürzt hat. Doch Akman wird in der verbotenen Zone vermutet und so entwickelt sich Erins Suche zu einem offenbarungsreichen Road-Trip mit einem ungewöhnlichen Begleiter.
REGIESTATEMENT
Fast vier Jahre sind vergangen, seit ich anfing, Grain zu drehen. Während dieser langen Zeit bin ich einer Welt begegnet, die sich in vier Jahren vierzigmal gewandelt zu haben schien. Der Film beruht auf einer Geschichte, die in einer unbestimmten Zukunft spielt, einer Zukunft, in der die Menschheit versucht, Wege zu finden, mit einer Reihe andauernder Kriege zurechtzukommen, mit durch Klimawandel bedingten Umweltkatastrophen, mit tödlichen Grenzen, die errichtet werden, um Flüchtlinge zu vertreiben, und mit dem Chaos, das durch genetisch verändertes Saatgut hervorgerufen wird.
Bevor ich mit den Dreharbeiten für Grain anfing, suchte ich nach einem Drehort, der den Ruinenlandschaften von Detroit ähnelt. Dabei begegnete ich vielen Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten. Später – im Laufe des Drehs – traf ich an mehreren Orten im türkischen Anatolien auf unzählige Flüchtlinge aus Syrien. Um die gleiche Zeit sah ich auch, wie von Armut geplagte Menschen versuchten, auf den eiskalten Straßen Stockholms zu überleben, und ich begriff die unsichtbaren und doch sehr realen Grenzen dieses Kontinents. Die Geschichte des Films überschneidet sich mit der heutigen Realität.
Grain erzählt die Geschichte der Reise zweier Männer, die auf der Suche nach unmanipuliertem Saatgut durch Landschaften reisen, die ihre lebenspendenden Eigenschaften verloren haben. Dabei entdecken sie die inneren Zusammenhänge ihrer eigenen Existenz. Sie laufen durch Gebiete, deren Bewohner Durst und Hunger leiden und mit desaströsen Infektionskrankheiten und verseuchtem Boden zu kämpfen haben. Während der Pausen, die sie auf ihrem Weg einlegen, begegnen sie ausgesetzten Kindern und Menschengruppen, die durch genetische Mutationen entstellt sind. Ihre Reise zwingt sie dazu, die inneren Wüsten des Egoismus, Stolzes und Nihilismus zu durchqueren und sich einen Weg durch einen Sumpf aus Ehrgeiz und Habgier zu bahnen. Als Erol, der bis jetzt immer nach dem Prinzip „ich zuerst“ gehandelt hat, seinen Weggefährten Cemil besser kennenlernt, wird er mit einer Lebenseinstellung konfrontiert, die auf Geduld und Ausdauer beruht, auf Zufriedenheit durch Selbstlosigkeit. Ist es nicht ein Grundprinzip des Reisens, dass Weggefährten auf die Bedürfnisse des anderen achten und sich auf sie einstellen? Was wird aus ihrer Suche nach unmanipuliertem Saatgut? Kann die verstreute Saat der Menschheit in dieser Welt aufgehen? Führt diese Reise an ein Ziel?
(Semih Kaplanoğlu)
GRAIN - WEIZEN
Mit Jean-Marc Barr, Ermin Bravo, Grigoriy Bobrygin, Cristina Flutur
Buch & Regie: Semih Kaplanoğlu
Kamera: Giles Nuttgens
Ton: Jörg Kidrowski
Ausstattung: Naz Erayda
Kostüm: Esin Nazli Cinar
Schnitt: Ayhan Ergürsel & S. Hande Güneri
Produktion: Heimatfilm, Kaplan Film
Pressestimmen
“GRAIN – WEIZEN ist die Suche nach den Begrenzungen des Menschen und der trügerischen Befreiung durch die Technologie. Kaplanoğlus Wurzeln reichen tief, hinein in existentielle Fragestellungen. (…) Der Regisseur hat in seinem neuen Film sein filmisches Universum auf beeindruckende Weise erweitert, mit einem visuell überwältigenden Film, von Kameramann Giles Nuttgens in betörenden Schwarzweiß-Bildern gedreht.”
CINEUROPA
“Eine schwarzweiße, epische SciFi-Parabel voller atemberaubender Bilder und philosophischer Untertöne. Gedreht mit einem internationalen Cast auf drei Kontinenten wandelt GRAIN auf den Spuren von Tarkowskis STALKER – und wirkt gleichzeitig hochaktuell.”
FILMFESTIVAL COLOGNE
“Wir waren tief beeindruckt von der wahrhaft wunderbaren Bildgestaltung und der Art und Weise, wie der Film die dringlichen Fragen unserer Gegenwart durch eine gemeinsam erlebte mythische Erfahrung und Reise behandelt.”
Jurybegründung Grand Prix – BESTER FILM
Tokyo International Film Festival
Regiestatement
GESPRÄCH MIT SEMIH KAPLANOGLU
Darf man sagen: Sie haben einen Science-Fiction-Film gedreht?
Habe ich das wirklich? Ich würde eher sagen, ich habe einen Film gemacht, der sich bestimmter Vorgehensweisen von Science-Fiction-Filmen bedient. Ich kann nachfühlen, wenn man „Grain“ als Science-Fiction-Film bezeichnet, aber für mich ist es keiner.
Es finden sich diverse Aspekte der Anti-Utopie und des Endzeitfilms, etwa eine derangierte Natur, Städte sind nicht mehr lebenswert, Überwachung, Genexperimente, extremes Reich-Arm-Gefälle.
Ja, das will ich bestätigen, dies sind Topoi des Genres. Aber der große Unterschied ist, dass ich nicht versucht habe, eine futuristische Welt zu konstruieren; also etwas, das in der Zukunft liegt. Ich spreche über das Heute und versuche Dinge zu zeigen, die wir gern übersehen, weil wir mittlerweile so sehr daran gewöhnt sind, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Es gibt eine ganz konkret am Heute angelehnte Filmrealität. Diese spiegelt, was jetzt passiert, im Gegensatz zur unbestimmten Zukunft eines konventionellen Science-Fiction-Films, die auch dann diffus bleibt, wenn Zeitangaben eingestreut werden. Die allermeisten Hollywood-Filme ziehen lieber einen Vorhang vor die Wirklichkeit, die uns umgibt. Davon wollte ich mich bewusst absetzen. Mir war es wichtig, mittels der genannten Topoi die heutige Realität aufzuzeigen.
Was übersehen wir heute?
Genexperimente und industrialisierte Saatgüter führen zu Artensterben, greifen aber auch in die Genetik des Menschen ein. Gleiches gilt für die Überdüngung der Böden und Ackerflächen. Klimawandel, Ausbeutung, Arm-Reich-Gefälle – das ist doch alles längst da, aber es scheint sich niemand darüber aufzuregen. In den Industrie- und Schwellenländern regiert ein unkontrollierter Konsum und die Menschen begreifen nicht, dass sie selber zu Objekten innerhalb dieser Konsumwelt geworden sind. Nehmen wir als Beispiel dazu nur mal Smartphones. Ich frage mich schon selber, nutzen wir diese Geräte oder benutzen die uns. Wir zappeln in einem Netz aus Unrast und Reizüberflutung und sind nicht mehr in der Lage, unsere Existenz zu hinterfragen.
Sie inszenieren Endzeit als Spiel der Wechselseitigkeit. Natur und Umwelt spiegeln sich in der Befindlichkeit des Helden und umgekehrt. Im Kern ist das ein sowjetischer Ansatz, wie man ihn zuvor bei Tarkowski und in der Literatur bei Lem und den Strugatzki-Brüdern fand.
Ja, diesen Vergleich finde ich treffender; vor allem das Bild mit der inneren Reise des Helden. In diesem Zusammenhang möchte auch gern auf Coppolas „Apocalypse Now!“ verweisen und die zugrundeliegende Novelle „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad. Da geht es ja auch um eine Reise hin zu den ungezähmten, unerkundeten Bereichen, die in uns Menschen verborgen liegen. Trotzdem käme keiner auf die Idee, das als Science Fiction zu bezeichnen. Mir ist aber klar, dass die Leute Etiketten brauchen, um Dinge einordnen zu können. Also, ich sehe meinen Film eher als Sufi denn als SciFi.
Die Reise Ihres Protagonisten ist, wie Sie in einem Interview gesagt haben, von einer Sure des Korans inspiriert.
Das mit der Sure hat sich offenkundig herumgesprochen... Tatsächlich hat mein Film ebenso Anleihen an Joseph Conrad wie an die „Odyssee“.
Die von Homer oder die von Kubrick?
(lacht) Ich merke, Sie können nicht von der Science Fiction lassen. Aber der Vergleich passt trotzdem gut. Mir ging es tatsächlich um Homers „Odyssee“. Als ich versuchte, die verschiedenen Schauplätze, die ich ausgesucht hatte, zu einem Gesamtbild zu formen, da ging es natürlich auch darum, die verschiedenen intertextuellen Bezüge zu einer Geschichte zu verflechten. Es ging mir nicht darum, mit Zitaten zu klotzen, um Belesenheit zu dokumentieren. Aber dem Film liegt mehr zugrunde als diese eine Sure.
Worum geht es in dieser Sure?
Der Film setzt ja an einem Punkt an, wo Wissen und also auch Wissenschaft hinterfragt wird. Wir befinden uns in einer Ära, wo man glaubt, alles beherrschen und alle Probleme lösen zu können. Aber wenn dem so wäre, befände sich die Welt nicht in dem Zustand, in dem sie gerade ist. In dieser Koransure, und speziell in der Interpretation von Ibn Arabi, den die Fundamentalisten bis heute als Ketzer schmähen, geht es um Folgendes: Der Prophet Moses trifft auf die andere Person, von der übrigens immer nur als „die Person“ die Rede ist. Das ist eine Gestalt, die plötzlich auftaucht, und im Zuge ihrer Unterhaltung geht es um den Unterschied zwischen empirischem Wissen über die unmittelbar erfahrbare Welt und dem spirituellen Wissen über die innere Natur der Dinge und eben auch des Menschen. Nun vertritt Moses das Weltwissen, möchte aber auch gern das spirituelle Wissen erlangen. Aber obwohl er ein Prophet ist, muss er zunächst diverse Prüfungen bestehen, was ihm misslingt und am Ende die Deutung zulässt, dass er das erstrebte Wissen nicht bekommen hat.
Wo sehen Sie sich eher – im physischen oder im spirituellen Wissen? Oder ist der Film Ihre künstlerische „innere Reise“, um das herauszufinden?
Eigentlich bin ich der Überzeugung, dass man die beiden Ideen von Wissen gar nicht voneinander trennen kann. Es gehört zum Menschsein, diese beiden Bereiche in sich zu vereinen. Ich denke dabei weder an ein platonisches Ideal noch an den Über-Menschen in der faschistoiden Überhöhung, sondern an ganz normale Leute, die in der Lage sind, sich und anderen mit Liebe und Respekt zu begegnen. Was natürlich die Frage aufwirft, ob es solche Leute überhaupt gibt. Wir sind aber optimistisch genug, danach zu streben, wie es ja in allen religiösen und kulturellen Traditionen beschrieben und gefordert wird. Mir scheint aber, dass gegenwärtig doch eher das Interesse am Materiellen dominiert.
Und wo stehen Sie da jetzt?
Immer am Anfang der Reise. Einen Film zu machen ist doch immer der Versuch, den Menschen ein Gefühl zu vermitteln, dass diese beiden Aspekte der Welt da sind. Regie beinhaltet doch, den Bildern eine Bedeutungsvielfalt zuzuweisen. Kein Element in einem Film ist ja zufällig da. Alles wurde arrangiert, und das ist ja letztlich der ernst gemeinte Versuch, die verschiedenen Ebenen vom Wissen der Welt aufzuzeigen oder sich dem anzunähern. Soweit ich das sehe, ist mein Film der erste, der sich auf eine Sure als narratives Element stützt.
Jean-Marc Barr spielt die Hauptrolle. Wie sind Sie auf ihn gekommen?
Naja, ich hatte ganz zu Anfang drei Namen aufgeschrieben, die für mich in Frage kamen. Dann ging es in die Castings. Tatsächlich stand Jean-Marc auf der Liste ganz oben. Er ist ein Schauspieler, den ich seit Lars von Triers Europa-Trilogie sehr schätze. Wir riefen ihn also an und er reagierte ausgesprochen liebenswürdig. Er kam dann zu den Proben nach Istanbul und die Testaufnahmen verliefen so, wie ich es mir gewünscht hatte, und also bekam er die Rolle.
Warum haben Sie in Schwarzweiß gedreht?
Das hatte mehrere Gründe. Einer war ganz nach praktischen Gesichtspunkten ausgerichtet, denn der Dreh fand an verschiedenen Orten in verschiedenen Ländern, teilweise auf verschiedenen Kontinenten statt. Unterschiedliche Regionen bedingen unterschiedliche Farbwerte, die nur durch beträchtlichen Aufwand mit Kunstlicht oder Farbanpassung in der Postproduktion aufgefangen werden können. Mit Schwarzweiß lässt sich dieses Problem minimieren. Auf der anderen Seite arbeitet der Film mit starken Kontrasten, in der Charakterzeichnung ebenso wie in den Kulissen; dort besonders im Unterschied zwischen der Stadt und den toten Landstrichen. Grundsätzlich geht es immer auch um Sein und Nichts. Es ist eine Welt ohne Übergangszonen. Deshalb entschloss ich mich zu Testdrehs in Schwarzweiß. Die Aufnahmen überzeugten mich. Deshalb wurde es ein Schwarzweiß-Film.
(Interview: Uwe Mies)