Der Kick
Susanne-Marie Wrage
Markus Lerch
Ein Film von Andres Veiel
Regie Andres Veiel Kamera Jörg
Jeshel bvk Zweite Kamera Henning Brümmer Schnitt Katja
Dringenberg Ton Titus Maderlechner Mischung Martin
Steyer Ausstattung Julia Kaschlinski Redaktion Meike
Klingenberg, Wolfgang Bergmann Produzentin Brigitte
Kramer Eine Koproduktion von nachtaktivfilm mit Journal
Film Volkenborn KG und ZDFtheaterkanal
Synopsis
In der Nacht zum 13. Juli 2002 misshandeln die
Brüder Marco und Marcel Schönfeld und ihr Bekannter
Sebastian Fink den 16jährigen Marinus Schöberl. Täter
und Opfer kennen sich. Sie kommen aus Potzlow, einem Dorf 60
Kilometer nördlich von Berlin. Die Täter schlagen über
Stunden hinweg auf ihr Opfer ein. In einem Schweinestall muss
Marinus in die Kante eines Futtertrogs beißen. Nach dem
Vorbild des Bordsteinkicks aus dem Film American History
X tötet Marcel sein Opfer durch einen Sprung auf
den Hinterkopf. Die Täter vergraben die Leiche in einer
nahegelegenen Jauchegrube. Vier Monate später werden die Überreste
von Marinus Schöberl gefunden.
Der Regisseur Andres Veiel und die Dramaturgin
Gesine Schmidt haben sich über Monate auf Spurensuche
nach Potz-low begeben. Sie sprachen mit den Tätern, Dorfbewohnern,
Angehörigen von Opfer und Tätern und studierten Akten,
Verhörprotokolle, Anklage, Plädoyers und Urteil des
Gerichtsprozesses. Die Ergebnisse ihrer Recherche verdichteten
sie zu einem filmischen Protokoll für zwei Schauspieler. Der
Kick versucht, den Strukturen und Biographien hinter der
Tat eine Sprache zu geben. „Es geht darum“, sagt
Andres Veiel, „über das Entsetzen hinaus Fragen
zuzulassen, Brüche auszuhalten und einen Bruchteil zu
verstehen.“
Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch spielen
die fast 20 Rollen des Films mit beeindruckender Präzision
und Intensität. Schauspieler und dargestellte Person behaupten
keine Identität. Die Inszenierung verzichtet auf vordergründige
Illustrierung, Licht und Kameraarbeit schaffen einen Resonanzboden
für den Text – und das Schweigen. In der Verschränkung
filmischer Mittel mit solchen des Theaters, von nüchterner
Darstellung und Fiktionalisierung geht Der Kick an
die Grenzen des dokumentarischen Genres. Es wird möglich,
sich mit dem Unfassbaren zu befassen.
„Es ist mutig, wenn Filmemacher einem
solchen Ereignis seinen spektakulären, anekdotischen
Aspekt nimmt, um auf seine Essenz zurück zu kommen.
(...) Diese Reduktion auf das Essentielle hat eine radikale ästhetische
Entscheidung zur Folge. Der Kunstgriff, nicht mehr als zwei
Schauspieler im Film spielen zu lassen, scheint sich dem
Wirklichen zu entziehen. Aber das täuscht, denn die
Wirklichkeit setzt sich nach ihrer Dekonstruktion oft viel
besser wieder zusammen. Ein solches Vorgehen ermöglicht
eine neue Lesart, die neue Ergründung des Sinns der
Ereignisse. Der Weg, den der Regisseur eingeschlagen hat,
verschreibt sich der Mischung verschiedener Genres, bis an
die Grenzen sogar seiner eigenen Kunst. Aus dieser Überschreitung
ist ein kraftvolles Werk entstanden, das die notwendige Frage
nach den Grenzen zwischen dem Fiktionalen und dem Wirklichen
stellt.“ (Grand Prix Visions du Réel,
Jurybegründung)
Top
Pressestimmen
„Was, wenn es außerhalb dieser großartigen
Aufarbeitung des Deutschlandkomplexes keine richtigen Antworten
gibt? Der Kick ist wie ein Kreislaufkollaps, schwindelerregend
und heilsam. Es muss einem erst schwarz vor Augen werden, bevor
man die Welt wieder scharf sehen kann.“ Frankfurter Rundschau
„Veiel vergegenwärtigt und abstrahiert zugleich.
Und indem die Kamera ganz nahe an die Sprechenden herantritt,
das Spiel als Spiel transparent macht, löst sie die psychologischen
Personen vor unseren Augen auf. An ihre Stelle tritt eine vielstimmige
Erzählung, die nicht mehr nur von Potzlow, sondern von
einem Dorf handelt, in dem sich neben unseligen zufällen
auch die Linien der deutschen Geschichte in einer Julinacht
des Jahres 2002 überkreuzten.“ Die Zeit
„Veiel und Schmidt verfallen nicht in eine Rethorik
des Nihilismus. Im Gegenteil finden sie das Humane dort, wo
es auf den ersten Blick fehl am Platz ist. (...) Der Kick ist
die Suche nach Facetten der Wahrheit, die für ein Urteil
nicht von Belang sein können. Sie kommen durch das Spiel
der Schauspieler zur Sprache. Indem Susanne-Marie Wrage und
Markus Lerch Opfer und Tätern, Zeugen und Richtern eine
Stimme geben, verweisen sie den Fall an die Gesellschaft zurück,
aber nicht im exkulpierenden Sinn, der persönliche Verantwortung
leugnet, sondern in jenem differenzierenden Sinn, den die Tragödie
lehrt.“ FAZ
„Die Verfilmung von Der Kick gibt Gelegenheit,
an einer einzigartigen Reise ins Herz der Finsternis teizunehmen.
Und das, was dort in der tiefsten Dunkelheit leuchtet, ist – fast
obszön – die Kunst.“ Berliner Morgenpost
„Das Konzept geht auf. Die Entpersonalisierung der oftmals
erschütternden Aussagen schafft Distanz, sorgt dafür,
dass man den Blick nicht abwendet und die Worte nicht am Filter
der eigenen Vorurteile abprallen. Veiel, der bei seinen Recherchen
bewusst keine Kamera dabeihaben wollte, zeichnet ein umfassendes
Bild des sozialen Mikrokosmos, aus dem heraus das Verbrechen
entstanden ist. Er liefert keine Erklärungen, aber er
spricht trotz allem Verständnis das Dorf, das zusah und
schwieg, nicht von Schuld frei. Niemand wird geschont. Die
Bewohner von Potzlow nicht, aber auch nicht das Publikum, dem
der Weg der einfachen Distanzierungen versperrt bleibt.“ Der
Tagesspiegel
„Veiel wollte seinen Film karg halten. Der Text allein
sollte Bilder in die Hirne der Zuschauer brennen, und das tut
er. Jedes Mehr an filmisch Dargestelltem hätte die entsetzlich
präzisen Szenen im Kopf wieder verwischt.“ Junge
Welt
„Veiels Experiment geht auf, auch dank der wunderbaren
Präzision der beiden Schauspieler, und das auf sehr eindrucksvolle
Weise. (...) Es gelingt ihm tatsächlich, einen Blick in
das gesamtdeutsche Herz der Finsternis zu werfen. Egal, ob
ein Großvater zitiert wird, der im Zweiten Weltkrieg
mit ansehen musste, wie die Russen vor seinen Augen seine Eltern
erjängten, oder ob Marinus_ Eltern sich wundern, dass
niemand etwas bemerkt haben will, als ihr Sohn durchs Dorf
getrieben wurde. Die Gewalt ist bei Veiel immer schon vorher
da. Sie schält sich nicht nur aus der Sozialpathologie
dieses Ortes, sondern aus der eines ganzen Volkes und seiner
Geschichte. Sie hockt irgendwo im Bühnendunkel, immer
noch diffus, aber groß und schrecklich bereit.“ Taz
„Die beiden herausragenden Darsteller _ Susanne-Marie
Wrage und Markus Lerch – kennzeichnen durch geringfügige
Gesten und Modulationen der Stimme die Figuren. Doch der Zuschauer
kann im Kino den Blick nicht schweifen lassen, ist dem ausgesetzt,
was der Regisseur für ihn ausgewählt hat: bei Veiel
immer wieder die Großaufnahme der Gesichter. (...)
Wie immer öffnet Veiel den historischen Raum, zeigt auch
hier die lange Schleifspur von Demütigung und sozialem
Abstieg in den Lebensläufen. Veiel verfügt über
andere Reflexe als den des psychologischen Willens zum ‚Verständnis’.“ Berliner
Zeitung
„Indem er mit sparsamen Mitteln die erschütternden
Eindrücke in den Köpfen der Zuschauer entstehenlässt,
erweist sich Veiel nach seinen preisgekrönten Filmen Black
Box BRD und Die Spielwütigen erneut als
ein Meister seines Fachs. Wenige Großaufnahmen genügen,
ein zitterndes Kinn, ein Satz, der vom „Totmachen“ spricht.
(...) Veiel hat einen radikalen Weg gewählt. Statt Antworten
zu geben wirft er Fragen auf. Und verweist jenseits des Grauens
auf die Möglichkeit, dass am Ende einer Kette von sozialen
Demütigungen der gängige Hinweis auf Alkohol, Arbeitslosigkeit
und Nach-Wende-Trauma nicht mehr greift.“ Financial Times
„Nach diesem Film hat man das Gefühl, einer Wahrheit
nahe gekommen zu sein, die jenseits des Sagbaren liegt.“ Berlin-Brandenburgisches
Sonntagsblatt
„Wie Veiel mit Originaltexten umgeht, und wie die beiden
Schauspieler sie präsentieren, ist spannender als mancher
Thriller. Der Zuschauer geht durch die Hölle. Die Bilder
entstehen in unserem Kopf, und sie sind schrecklich. Wir blicken
in den Abgrund einer Gesellschaft, die das, was sie sich so
hart erarbeitet hat, allmählich wieder verliert: ihre
Zivilisiertheit.“ Schwäbische
Zeitung
Pressestimmen
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Top
Interview
Raus aus dem Monsterkäfig
Interview mit Andres Veiel
Was hat Sie veranlasst, sich mit den Ereignissen
von Potzlow zu beschäftigen?
Während des Prozesses wurden die Täter
auf kalte, unberührbare Monster reduziert, rechtsradikale
Täter ohne Reue, ohne Reflektion. Das ganze Dorf stand
unter dem Generalverdacht, die Tat zu decken. In den Medien
und aus der Politik wurden formelhaft die üblichen Klischees
als Ursache der Gewalt zitiert: Perspektivlosigkeit, Alkoholismus,
Arbeitslosigkeit. Schon beim zweiten Blick auf den Fall wird
deutlich, dass diese schnellen Zuweisungen nicht weiterhelfen.
In den meisten Debatten wurden die Täter in einen Monsterkäfig
gesperrt. Ich wollte sie da von Anfang an herausholen. Wir
müssen uns die Täter als Menschen vorstellen. Wir
geben ihnen eine Biographie. Das ist die eigentliche Provokation.
Das hat immer etwas Beängstigendes, aber
auch etwas Befreiendes. Die Täter kommen aus einem Elternhaus,
wie es Hunderttausende in diesem Land gibt. Zwei der drei Täter
hatten eine Perspektive: Sie hatten gerade eine Lehre begonnen.
Dieser normal-unheimliche Hintergrund macht die Tat so bedrohlich
und rückt sie gleichzeitig sehr nah an jeden von uns heran.
Es ist in Potzlow passiert, aber Potzlow ist, fast, überall.
Im Vergleich zu den neueren rechtsextremistischen
Gewalttaten ist der Potzlower Mord singulär. Aber unsere
Tiefenbohrung versucht, eine Art Werkzeugkasten zur Analyse
der anderen Fälle zu liefern. Anders gesagt: Wenn man
sich mit der Frage „Was kann man tun gegen rechte Gewalt,
was kann man ändern“ auseinandersetzt, muss man
sich erst einmal mit einem Fall kompromisslos beschäftigen.
Das haben wir versucht.
Wie sah die Recherche aus?
Von September 2004 bis April 2005 sind die Dramaturgin
Gesine Schmidt vom Maxim Gorki Theater und ich regelmäßig
in die Uckermark gefahren. Wir haben Fragen gestellt, den Tätern,
den Freunden des Opfers, den Dorfbewohnern.
Am Anfang wollte niemand mit uns reden. Selbst
der Dorfpfarrer, bei dem wir vermuteten, er sei der Brückenkopf
in die Außenwelt, hat gesagt: Bleiben Sie bitte in Berlin.
Wir wollen hier niemanden. Da hatte bereits die Presse- und
Medienwelle einen deutlichen Flurschaden hinterlassen. Es ist
schnell von einem faschistoiden Dorf die Rede gewesen. Das
ist ein Teufelskreis: Da wird ein ganzes Dorf erst mal mit
dieser Tat in Verbindung gebracht Die Dorfbewohner ziehen sich
zurück, sind wütend und verletzt und verschließen
sich. Und das ist für viele Journalisten wieder eine Bestätigung:
Es ist noch viel schlimmer, da redet niemand, die verdrängen
alles.
Wir konnten über Monate Vertrauen bei den
Beteiligten aufbauen. Dabei machten wir die Erfahrung, dass
es ein Bedürfnis gibt, zu sprechen. Es existiert diese
Ambivalenz zwischen dem Schweigen, dem Verhüllen, und
dem Wunsch, dann doch darüber zu reden. Wir haben unsere
Gesprächspartner Ernst genommen. Das widersprach ihrer
Erfahrung, nicht mehr gebraucht – und damit auch nicht
mehr gehört zu werden. In unseren Gesprächen war
dann bald von der angeblichen Dumpfheit und Nicht-Reflektion
nichts mehr zu spüren.
Geholfen hat uns dabei, dass wir sehr viel Zeit
hatten. Uns ging es nicht ums sofortige Verwerten. Wir sind
zu den Eltern der Täter dreimal ohne Aufnahmegerät
hingegangen und haben mit ihnen gesprochen und zugehört.
Erst beim vierten Mal haben wir gewagt, überhaupt ein
Tonband aufzustellen.
Wir wollten uns zum einen mit dem Dorf beschäftigen,
zum anderen auch mit den Täterbildern, die öffentlich
entworfen wurden. Können die Motive auf einen rechtsradikalen
Nährboden reduziert werden? Unweigerlich berührt
man damit auch ein Stück deutscher Geschichte. Dieses
Dorf ist ja nicht nur ein Dorf, das so ist, wie es ist, sondern
es hat auch eine Geschichte. Da gibt es Wurzeln, da gibt es
Vorbilder, da gibt es Großeltern. Das Opfer wurde von
den Tätern als Jude bezeichnet. Marinus sollte zugeben,
dass er Jude ist und wurde daraufhin zusammen geschlagen. Es
gab eine Menge von Versatzstücken historischer Zitate.
Wir haben uns dafür interessiert, was die Täter,
aber auch deren Eltern davon wissen.
Welchen sozialen Hintergrund sehen Sie für
die Ereignisse in Potzlow?
Der Mord an Marinus Schöberl hat für
mich auch eine politische Dimension. Indem über die Tat
gesprochen wird, wird damit auch die Frage nach Verarbeitung
von Wendeerfahrungen thematisiert. Wenn man den Fall Potzlow
nimmt, dann fällt zunächst eine ökonomische
und eine daraus abgeleitete soziale Verkarstung auf. Von ehemals
700 Arbeitsplätzen der LPG sind zwei übrig geblieben.
Es gibt zu wenig Lehrstellen. Man muss wegziehen, um etwas
zu werden. Schulen werden zusammengelegt, dörfliche Sozialerfahrungen
fallen auseinander. Im Dorf findet nichts mehr statt. Das führt
zu einer Monopolisierung der Jugendkultur, eine Richtung setzt
sich durch, und das ist oft die rechte. Die politische Jugendkriminalität
ist in strukturschwachen Regionen um 20 bis 30 Prozent höher
als anderswo. Es gibt eine eindeutige Korrelation zwischen
einer ökonomisch bzw. sozial vernachlässigten Region
und einer auffälligen Zunahme von Jugendkriminalität.
Doch die ökonomisch-soziale Verkarstung alleine erklärt
die Tat nicht. Nur der älteste Bruder Marco Schönfeld
war beruflich ohne Perspektive. In der Schweiz gab es übrigens
einen ähnlichen Fall. Die Täter hatten alle Arbeit
und kamen aus geordneten Verhältnissen.
Zu welchem Material hatten Sie Zugang?
Die meisten Gespräche haben wir selbst mit
den Protagonisten geführt. Die Mutter von Marinus war
zu dem Zeitpunkt, als wir mit der Recherche begannen, schon
gestorben. Wir konnten in diesem Fall auf die Aufnahmen zurückgreifen,
die die RBB-Journalistin Gaby Probst mit ihr gemacht hatte.
Neben diesen Gesprächen haben wir die Verhörprotokolle
von Marcel Schönfeld verwendet. Sie heben sich sprachlich
deutlich von den übrigen Gesprächen ab. Sie wurden
von einem Protokollanten verfasst, der bei den Verhören
anwesend war. Marcel musste sie am Ende der Verhöre auf
Richtigkeit prüfen und unterschreiben. Es ist eine merkwürdige
Mischung von Amtsdeutsch und Zitaten von Marcel. Dazu kommen
Gerichtsprotokolle, also Mitschriften aus dem Prozess, Anklageschrift
und Urteilsverkündung, aber auch die Predigt des Pfarrers.
Sie bilden einen weiteren Kontrast zu den umgangssprachlichen
Gesprächsprotokollen.
Wir haben die einzelnen Gespräche in sich
gekürzt, thematisch Ähnliches zusammengeführt,
Doppelungen und andere Redundanzen herausgenommen, manchmal
etwas Mundart reduziert. Wichtig war uns, dass der Sprachkörper
einer Person an sich erhalten bleibt. Wenn man sich genauer
damit beschäftigt, merkt man, wie unterschiedlich jeder
spricht. Da ist nichts austauschbar. Überraschend ist
die sinnliche, manchmal fast poetische Qualität mancher
Protokolle.
Was hat Sie dazu bewogen, die dokumentarische
Recherche in eine Inszenierung münden zu lassen?
Für mich war von Anfang an klar: Ich wollte
nicht den Bordsteinkick naturalistisch nachinszenieren. Das
fände ich absurd und obszön. Wenn ich Gewalt nur
zeige, bin ich schockiert oder fasziniert – woher sie
kommt, habe ich deshalb noch lange nicht ergründet. Wir
versuchen, dasselbe Phänomen in verschiedenen Sprachebenen
zu sezieren. Das heißt, ein Verteidiger, ein Staatsanwalt,
ein Kriminalbeamter spricht eben anders als ein Täter.
Manchmal gibt es sogar innerhalb des Dorfes ganz unterschiedliche
Einfärbungen, so dass scheinbar gleiche Inhalte durch
die Sprache zu etwas vollkommen anderem werden. Ich wollte
ganz bewusst auf vordergründige Illustration verzichten
und konzentriere mich auf die Sprache. Es ist in diesem Sinne
eine karge Geschichte, die die Bilder im Kopf des Zuschauers
entstehen lässt.
Bei Der Kick sind Schauspieler und dargestellte
Person nicht mehr eins, sondern viele. Diese Form der De-Personalisation
hat mich sehr gereizt. Ich hatte mit Susanne-Marie Wrage und
Markus Lerch zwei herausragende Schauspieler, die mit minimalen,
subtilen Mitteln die verschiedenen Rollen akzentuiert darstellen
können. Sie spielen fast 20 Rollen, vom Täter bis
zur Mutter des Opfers, dem Pfarrer und dem Bürgermeister.
Durch diese Art der Darstellung entsteht Distanz. Nur so ist
es möglich, sich in ein Ursachengestrüpp analytisch
hineinbegeben zu können. Dabei lassen wir weder die Schrecken
der Tat aus, noch verharmlosen wir den Fall. Im Theater sind
solche abstrakten Form selbstverständlicher als im Film.
Gerade deshalb hat es mich vom ersten Probentag an gereizt,
diese radikale Form in einen Film zu transplantieren.
Wie sehr bewerten Sie das dokumentarische
Material durch Ihre Bearbeitung?
Ich würde sogar fast von einer Fiktionalisierung
sprechen... Wir bewerten durch die Auswahl der Texte und die
Montagetechnik. Zum Beispiel die Mutter des Opfers, die ein
ausländerfeindliches Ressentiment formuliert, wodurch
deutlich wird, dass man mit dem Begriff „Rechtsextremismus“ gar
nicht weiterkommt. Sie zeigt erstmal das auf, was flächendeckend
vorhanden ist: Fremdenfeindlichkeit. Es gibt nicht nur eine
kleine gewaltbereite Gruppe, sondern es gibt die Mitte der
Gesellschaft, die das trägt. Die Auswahl der Texte kreist
die Tat ein, indem eigentlich von etwas anderem gesprochen
wird: von der alltäglich gegenwärtigen Gewalterfahrung
im Dorf und in der Familie. Das fängt nicht am Abend der
Tat an, sondern 60 Jahre vorher. Der Großvater der Täter
musste mit erleben, wie seine eigenen Eltern von den Russen
ermordet wurden. Das erklärt den Mord an Marinus Schöberl
nicht. Und dennoch muss man sich auch damit befassen.
Je länger wir uns mit einer Arbeit beschäftigen,
desto rauer, widersprüchlicher und offener sind die gewonnenen
Erkenntnisse. Diese Erfahrung einer komplexen Wirklichkeit,
die sich nicht thesenhaft erfassen lässt, versuche ich
weiterzugeben. Der Zuschauer ist selbst gefordert, sich aus
den Angeboten etwas zusammenzudenken. Vielleicht liegt in dieser
Offenheit der Aufbereitung der eigentliche Kern von „Wahrhaftigkeit“.
Wir behaupten nicht: so ist es gewesen. Es wird nichts bebildert.
Lediglich die Sprache der jeweiligen Personen ist „authentisch“.
Wir arbeiten mit Klarnamen.
Wann ist die Idee entstanden, einen Film
daraus zu machen?
Ich habe bei den Proben für das Stück
manchmal gemerkt, dass ich sehr nah an die Schauspieler herangegangen
bin, quasi in Naheinstellungen gedacht habe. Das funktioniert
für die Bühne nicht. Man muss im Theater immer einen
großen Raum bespielen, also in Totalen denken. In diesem
Moment war für mich klar, dass ich mit dem Stoff auch
einen Film machen will. Die erste Idee war: Mit der Kamera
will ich die mikroskopische Feinstruktur des Textes herausarbeiten.
Ich wusste, dass ich damit eine scheinbar gleiche Geschichte
neu erzählen kann. Was im Theater Leere ist, füllt
im Kino die Leinwand. Der Film holt die Schauspieler nah ran,
zeigt ihr Gesicht als Landschaft. Damit wird auf einer ganz
anderen Ebene erzählt. Wir arbeiten im Film mit einem
Augenaufschlag, einem Zucken der Mundwinkel, mit dem Zittern
einer Hand.
Mit welchen Überlegungen sind Sie an
die filmische Umsetzung gegangen?
Als wir über die Auflösung nachdachten,
ist meine anfängliche Euphorie in bezug auf Großaufnahmen
erst mal gründlich erschüttert worden. Der vielfache
Rollenwechsel im Stück funktioniert sehr stark über
den Körper. Kleine Akzentverschiebungen in den Schultern,
der Kopfhaltung, der Position der Hände schaffen eine
komplett neue Figur. Dafür braucht es die Totale – vor
allem dann, wenn der Schauspieler die Rolle, die er verkörpert,
nicht ansagt. Doch auch außerhalb der Rollenwechsel haben
wir uns gefragt, ob die Reduktion auf ein Gesicht nicht irritierend
ist. Wird der Zuschauer dann nicht von Eigentümlichkeiten
des Schauspielers abgelenkt, wie etwa den sichtbaren Poren
seiner Haut, der Frisur – all das bleibt ja bei allen
Rollen gleich. Kann der Zuschauer in den Naheinstellungen die
Rollen auseinander halten? Dringt man als Zuschauer damit gar
nicht zur Rolle vor, sondern bleibt beim Schauspieler hängen,
der etwas verkörpern will?
Bei der filmischen Inszenierung haben wir sehr
auf reduzierte Mimik und Gestik geachtet. Letztendlich
haben wir auf diese Weise auch die Großaufnahme gerettet.
Wir sehen eben kein Grimassenstudio. Sondern da wird ein Gesicht
zur Landschaft einer entwurzelten, verstörten Seele. Das
hat mich interessiert. Ich wollte aus dem Korsett der Theater-Totalen
ausbrechen. Dafür muss ich dem Kino-Zuschauer, der nicht
mehr die Entscheidungsfreiheit hat, innerhalb der Totalen selbst
auszuwählen, etwas anderes bieten. Wir haben Pausen gesetzt,
Blicke verlängert, das Schweigen zelebriert. Darin entfaltet
sich ein anderer Subtext der Figuren. Damit funktioniert der
Film vollkommen anders als das Stück, er bekommt einen
anderen Rhythmus. Wir öffnen einen anderen Resonanzboden.
Die Halle, in der wir gedreht haben, kann je
nach Lichtführung unterschiedliche Räume im Kopf
des Zuschauers öffnen. Er kann die nüchterne, betonierte
Härte eines Verhörraums abbilden, er kann an den
Tanzsaal einer verlassenen Dorfgaststätte erinnern, er
kann sich in den sakralen Raum einer Kirche verwandeln oder
den Stall assoziieren. Wir haben für den Dreh Strukturen
in den Wänden oder im Gebälk des halbrunden Dachgiebels
sichtbar werden lassen, die im Theater im Schwarz abgesoffen
sind. Das Theater reduziert den Raum, im Film öffnen wir
ihn. Dazu kommt die Tonebene, die immer unterschätzt wird.
Ich habe mir schon während der Dreharbeiten überlegt,
dass wir nicht mit Musik arbeiten, sondern nur mit Geräuschen
klanglich etwas entwickeln werden. Der Ort war dafür eine
riesige Fundgrube. Es hört sich an, als ob es zufällig
auftretende Geräusche sind, aber es ist nichts dem Zufall überlassen
worden.
Sie haben sich bereits in früheren Filmen
im Spannungsfeld von Film und Theater bewegt. Was interssiert
Sie daran?
Theater hat immer etwas Vorläufiges und
Offenes, weil es in jeder Probe, in jeder Vorstellung korrigiert
werden kann. Deshalb ist gutes Theater trotz seiner Abstraktion
sehr nah dran am Leben. Es ist in diesem Sinne eine komplementäre
Form des dokumentarischen Arbeitsprozesses. In Winternachtstraum, Balagan und
den Spielwütigen mische ich Theaterszenen mit
dokumentarischem Material. Ich glaube, dass das Theater neben
den klassischen dokumentarischen Methoden wie Beobachtung und
Interview eine weitere Möglichkeit ist, über Menschen,
die sich im Leben – und dazu gehört die Bühne – inszenieren,
etwas Neues zu erfahren. Die Bühne ist der Ort, wo alles
passieren kann, was im Leben verboten ist. Damit stellt sich
der Begriff des Authentischen auf den Kopf: Im Schutz der Rolle
kann ein Protagonist in „wahrhaftige“ Dimensionen
vordringen, in die er sich „privat“ nicht getrauen
würde.
Und noch etwas anderes finde ich im Verhältnis
Bühne und Film befruchtend. Die Bühne ist ein abstrakter
Raum, die ich auf das Wesentliche reduzieren, ihn sogar komplett
entkernen kann. Filmregisseure wie Lars von Trier haben
erkannt, dass dieser theatrale Minimalismus ihnen hilft, sich
auf den Kern ihrer Geschichte zu konzentrieren. Wenn
jemand eine Tür öffnet, brauche ich keine reale Tür.
Ich konzentriere mich ausschließlich auf die Handbewegung
des Schauspielers und sein überraschtes Gesicht über
das, was er im Raum antrifft.
Im Kick gehe ich noch einen Schritt
weiter. Die Stimmen der Täter, der Opfer und des Dorfes
verschmelzen in einem oder zwei Körpern. Das ist für
mich filmisches Neuland gewesen. Dass diese radikale Form im
Film so gut funktioniert, hat mich selbst überrascht.
Ich glaube, dass das mit der „authentischen Kraft“ des
Filmes zu tun hat. Der Film gibt mir meinen Blick vor, ich
kann schwerer entkommen. Ich muss im wörtlichen Sinne
näher hinschauen. Ich glaube, dass der Film in diesem
Sinne das stärkere Medium ist.
Top
Filmografien
Susanne-Maria Wrage
Studierte in Berlin Schauspiel und Szenisches
Schreiben. Seit 1988 Theaterengagements, zunächst am Schillertheater
Berlin, dann an den Städtischen Bühnen und am Theater
Neumarkt, seit 2003 am Theater Basel. Seit 2000 arbeitet sie
als freie Schauspielerin und Regisseurin. Susanne-Marie Wrage
wurde mehrfach mit nationalen und internationalen Preisen,
zuletzt mit dem Darstellerpreis für ihre Rolle der Lena
in Iain Dilthey Das Verlangen (2002) auf dem Filmfestival
Premiers Plans d’ Angers. Ihre jüngste Kinoarbeit Nachbeben (Regie:
Stina Werenfels) wird im Panorama der Internationalen Filmfestspiele
Berlin 2006 uraufgeführt.
Markus Lerch
Schauspielstudium an der Folkwanghochschule in
Bochum. 2003 spielte er u.a. im Rahmen der RuhrTriennale in
Jeanne d’Arc au Bucher von Arthur Honegger im Musiktheater
im Revier in Gelsenkirchen. Am Schauspielhaus Bochum war er
zu sehen in Reservoir Dogs (Regie: Orazio Zambelletti)
und in Man spielt nicht mit der Liebe (Regie: Philipp
Preuß). Darüber hinaus arbeitete er an den Wuppertaler
Bühnen und am Prinz Regent Theater Bochum. Er spielte
in verschiedenen Kurzfilmen sowie dem Spielfilm Nette Leute von
Frank Conrad.
Andres Veiel (Buch und Regie)
Geboren 1959 in Stuttgart. Studium der Psychologie
in Berlin, während dessen Ausbildung im Rahmen der Internationalen
Regieseminare am Künstlerhaus Bethanien, vorwiegend bei
Krzysztof Kieslowski. Zu seinen vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilmen
zählen Winternachtstraum (1992), Balagan (1993,
u.a. Deutscher Filmpreis und Friedensfilmpreis der Berlinale), Die Überlebenden (1996,
u.a. Adolf-Grimme-Preis, Hauptpreis Internationales Dokumentarfilmfest
München), Black Box BRD (2001; u.a. Europäischer
Filmpreis, Deutscher Filmpreis, Bayerischer Filmpreis, Best
Documentary; International Filmfestival Santa Barbara) und Die
Spielwütigen (u.a. Panorama-Publikumspreis der Berlinale,
Preis der Deutschen Filmkritik, Hauptpreis Internationales
Dokumentarfilmfest München). 2005 wurde Andres Veiel mit
dem Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste ausgezeichnet.
Zur Zeit bereitet er seinen ersten Spielfilm nach Gerd
Koenens Buch Vesper, Ensslin, Baader vor.
Jörg Jeshel (Kamera)
Jörg Jeshel arbeitete als Kameramann u.a.
mit Manfred Stelzer, Volker Heise, Mischka Popp und Thomas
Bergmann, Katja Esson, Sasha Waltz, Oliver Becker. Mit Andres
Veiel drehte er bereits Black Box BRD. Seit 1991 arbeitet
er zudem als Regisseur und Produzent gemeinsam mit Brigitte
Kramer, u.a. bei den Dokumentar- und Tanzfilmen Körper, Engelslohn, Gute
Reise Faust und Potzlow Geschichte X. Jörg
Jeshel wurde mit dem Deutschen Kamerapreis für den Spielfilm Wer
hat Angst vor ROTGELBBLAU (1992; Regie: Heiko Schier)
sowie den Grimme-Preisen für Kopfleuchten (2000;
Regie: Mischka Popp, Thomas Bergmann) und der zero film-Produktion Schwarzwaldhaus
1902 (Regie: Volker Heise) ausgezeichnet.
Katja Dringenberg (Montage)
Geboren 1961 in Soest/Westfalen. Seit Mitte der
achziger Jahre als Cutterin tätig, u.a. mit Tom Tykwer
(1993, Die tödliche Maria; 1997, Winterschläfer),
Christian Petzold (1997, Die Beischlafdiebin), Didi
Danquart (1999, Viehjud Levi), Susanne Schneider (2003, In
einer Nacht wie dieser) und Marc Schlichter (2005, Blindes
Vertrauen). 2005 führte sie gemeinsam mit Christiane
Voss erstmals selbst Regie in Ich dich auch. Mit Andres
Veiel arbeitete Katja Dringenberg bereits bei Black Box
BRD (2001) zusammen.
Top
Credits
Darsteller … Susanne-Marie Wrage, Markus
Lerch
Regie … Andres Veiel
Produzentin … Brigitte Kramer
Kamera … Jörg Jeshel bvk
Zweite Kamera … Henning Brümmer
Schnitt … Katja Dringenberg
Ton … Titus Maderlechner
Sounddesign … Titus Maderlechner, Arpad
Bondy
Mischung … Martin Steyer
Titelgestaltung … Ania Cremer
Compositing … Francesco Sacco
Dramaturgie/Theater … Gesine Schmidt
Ausstattung … Julia Kaschlinski
Assistenz … Nehle Balkhausen
Aufnahmeleitung … Katharina Lobsien
Produktionsberatung … Hartwig König
Rechtsberatung … Wolfgang Brehm
Regieassistenz … Stephan Müller
Kameraassistenz … Stefan Gohlke
Drehbühne … Oleg Prohl
Bühne … Jan Olschewski, Andreas Dexel
Tontechnik/Theater … Danny Pratsch / Robert
Zefic
Beleuchter … Gerd Franke, Pierre Stolper,
Jochen Massar
Inspizienz … Mirjam Beck
Produktionsleitung … Brigitte Kramer
Redaktion … Meike Klingenberg, Wolfgang
Bergmann
Der Kick entstand nach dem gleichnamigen
Stück von Andres Veiel und Gesine Schmidt (Uraufführung
von Maxim Gorki Theater, Berlin und Theater Basel). Gedreht
im Gewerbehof in der alten Königstadt, Berlin.
Eine Koproduktion der nachtaktiv-Film, der Journal
Film Volkenborn KG und dem ZDFtheaterkanal.
Gefördert von der FFA und dem Medienboard
Berlin Brandenburg
Im Verleih der Piffl Medien Verleih gefördert
von BKM und FFA
Top
Downloads
Presseheft
als PDF (1.5 MB)
Presseheft
als PDF (6.0 MB)
Flyer
als PDF (0.6 MB)
Medienpädagigisches
Begleitheft DER KICK als PDF
(2.3 MB)
Film
des Monats als PDF (0.1 MB)
Pressestimmen
als PDF (2.8 MB)
Pressestimmen
(Auswahl) als PDF (0.04 MB)
Top
Spieltermine und Kinolinks
Stadt |
Kino |
Von |
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Zur Zeit leider keine Einsätze! |
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